Lost & found
Lost & found - Hungary reflected in its contemporary art.
Exhibition at the Staatliche Kunsthalle Baden-Baden December 9,
2006 - February 25, 2007.
Fundstücke aus der ungarischen Gegenwart
Fritz Emslander
„Dass die Ungarn nicht wissen, wer sie sind,
steigert ihr Bedürfnis nur umso mehr,
es Nicht-Ungarn erklären zu wollen.“ (László Márton, 2004)1
Das Selbstverständnis der Ungarn gründet offensichtlich auch heute noch ganz stark auf dem Bild, das jeder einzelne sich von den tragischen Ereignissen im Jahr 1956 ableitete. Das Problem: Da jener Volksaufstand kaum ein einheitliches Ziel besaß,2 spaltet das Gedenken daran noch immer das Land. Im Jahr der fünfzigsten Wiederkehr des lange unterbundenen, jetzt aber umso lebendigeren Gedenkens ist in ganz Ungarn eine hitzige Debatte um die Interpretation von „Ungarn 1956“ ausgebrochen. Ein „kollektives Trauma“ (György Dalos3 ) ist zu bewältigen, Mythen werden demontiert. Historiker bringen immer neue Fakten zum Vorschein, Politiker kämpfen ihrerseits um die Deutungshoheit.4 Und die Ungarn stehen einmal mehr in ihrer wechselhaften Geschichte vor der Notwendigkeit, darüber nachzudenken, wer sie eigentlich sind.
Einen besonderen Hang zur Selbstbefragung hat Lászlo Márton den Ungarn bescheinigt. Allzu häufig würden sie über die eigene Identität grübeln. Und genau das, die Frage, wer sie denn eigentlich seien, würde den Ungarn den Blick verstellen. Anders formuliert: Dieser „verstellte Blick“ sei es, „der den ‚Ungarn an sich‘ ausmacht.“5
Wenn die Ungarn jemandem zutrauen, Abhilfe aus diesem Dilemma zu schaffen, so ist es mit größter Wahrscheinlichkeit ein Schriftsteller. In der aktuellen Diskussion sind Literaten wie György Dalos, Péter Esterházy oder György Konrád viel gefragte Fachleute in der Deutung der politischen Geschichte und – eng damit verknüpft – der Mentalitätsgeschichte ihres Landes. So wie in Ungarn „ohne Gedichte keine Revolution“ (György Konrád6 ) zu bestreiten sei, so sehr vertraut man sich den Literaten an, wenn es heute darum geht, die eigene Vergangenheit ins rechte Licht zu rücken. Nach wie vor scheinen Gedichte im ungarischen Alltag „zu den ganz normalen Lebensmitteln zu gehören“7 , und die Überzeugung, „dass man ein Land […] am gründlichsten über seine Dichtkunst verstehen kann“8 , ist weit verbreitet. Worin aber ist diese Autorität der ungarischen Literaten begründet?
Der dritte Blick
Ohne etwas Falsches sagen zu wollen, müsste man zunächst behaupten, die Literaten sehen mehr, sie hören mehr und sie scheuen sich nicht, davon zu berichten. Das Zutrauen in die intellektuelle Schärfe und moralische Integrität seiner Schriftsteller teilt Ungarn mit vielen europäischen Nachbarn. Die ungarische Literatur pflegt aber zudem eine lange Tradition der „dissidentischen Kultur“9 , die unter den autoritären Systemen von Rákosi und Kádár besondere Brisanz gewann und auf die sie sich heute berufen kann: Die Literaten bezogen eine Warte außerhalb der politisierten Gesellschaft, blieben und wirkten aber (wenn auch teilweise in den Untergrund abgedrängt) mitten in ihr. Der bewusst gehaltene Abstand ermöglicht eine persönliche Perspektive, die auch das „menschliche Umfeld der politischen Phrasen“ erfasst, eine nicht durch politischen Druck eingeschüchterte oder von politischem Kalkül vereinnahmte, komplexe Sicht der Dinge. György Konrád nannte diese Sichtweise, die sich keiner der rivalisierenden Parteien anschließt und sich weder die Position der „Täter“ noch die der „Opfer“ zu eigen machte, den „dritten Blick“. Auf den Punkt gebracht: „Literatur und Kunst sind der dritte Blick.“10
Seinen eigenen „Beruf“ bezeichnet György Konrád entsprechend als „den des Zuschauers“. Er spricht ihm eine ausgleichende Funktion im Ringen der politischen Mächte und gesellschaftlichen Kräfte zu: „Es tut nicht gut, wenn auf der menschlichen Bühne die eine Seite einen totalen Sieg erringt. Der dritte Blick des Zuschauers ist weder neutral noch teilnahmslos. Er befindet sich mitten im Geschehen, ist allerdings bemüht, es diszipliniert auch von außen zu sehen.“11 Um mit dem eigenen Land zu hadern, sich vorübergehend davon loszureißen und sich in Widerrede zu üben, dienten international renommierten Literaten wie Konrád sicher auch wiederholte Auslandsreisen.12 Der klassische Ort der Distanzierung lag aber meist in Budapest, an der nächsten Straßenecke: im Kaffeehaus (ungarisch Kávéház).
Kaffeehausmenschen
Das Selbstverständnis des Literaten respektive Künstlers als dissidenter, das heißt anders sehender Beobachter, wie es György Konrád umschreibt, ist gerade nicht an einen Rückzug aus der Gesellschaft gekoppelt, an die Isolation am Schreibtisch oder im Atelier. Die Tradition der Kaffeehauskultur (und was sich davon in kleinen Resten aus der Donaumonarchie bis in die Gegenwart retten konnte) verschafft dem teilnehmenden und doch distanzierten Beobachter die idealen Räume zur Ausübung seines Berufs.
Wo der „kleine Schwarze“ den Blick und die Gedanken schärft, entfaltete sich ein quasi universaler Lebensraum, in dem all jene, die sich außerhalb des Kaffeehauses unüberbrückbar fremd waren, versöhnt schienen: verschiedene Klassen und Parteien, Geschlechter und Nationen, die sich hier „der Ketten ihrer gesellschaftlichen Bedeutung entledigen“ und ein „neues Selbstverständnis“ finden konnten. „So sind Kaffeehäuser wie ein Stück Ausland im Inland, wie eine Reise mitten in der Heimat, wie Freihäfen im Meer der verwalteten Flächen. Sie fordern auf eine entspannte Art den vergesellschafteten Menschen auf, sich zu enthäuten, sie bieten ihm die Chance einer Wiedergeburt. Daher sind sie auch so häufig zu einem fruchtbaren Boden aufregend guter Literatur geworden.“13 An stark frequentierten Stellen, meist in Ecklage etabliert, öffneten sich diese Häuser zudem möglichst weit nach außen und suchten durch große Fenster den Kontakt zu den umliegenden Straßen und Plätzen: „Der Kaffeehausgast verkriecht sich nicht vor der Welt, er ist vielmehr an gesicherter Stelle mitten in ihr.“14 Der Zuschauer begab sich hier auf eine Bühne, auf der man Raum für Nähe und Distanz gleichermaßen, für Begegnungen und die Zuflucht vor denselben hatte.
Die „doppelte Kunst“, die Umstände des Lebens einerseits ernst zu nehmen und sie gleichzeitig mit ironischer Geste von sich zu weisen, ist eine Kunst, in der sich die „wahren Kaffeehausmenschen“ beweisen: Sie besitzen die Fähigkeit, auch sich selbst von außen durch das Fenster des Kaffeehauses zu sehen, wie sie dort am Tisch sitzen, über Papier gebeugt, vor sich das inspirierende Getränk, vertieft in entsetzlich wichtige Tätigkeiten.15 So gesehen kann der Kaffeehaustisch als räumliche Metapher für den spezifischen Standpunkt des Literaten und des Künstlers dienen: für jenes Vermögen, vom Alltag mit seinen vielfachen Verstrickungen Abstand zu nehmen, ohne ihn aus dem Blick zu verlieren. Um überhaupt schreiben, um Kunst machen zu können, müssen Literaten oder Künstler einen Schritt zurücktreten. Auf produktive Weise verbinden sie dann als „Zuschauer“ ihre Innenperspektive, ihre intime Kenntnis der Verhältnisse, einerseits mit einer Außenperspektive, mit ästhetischer und mentaler Distanz andererseits.
Fährenland
Mindestens ein im alten Geiste erneuertes Kaffeehaus, das Centrál Kávéház (Abb. 1, 2), kann man heute in Budapest wieder besuchen.16 Man sollte sich allerdings keiner Illusion hingeben: So sehr die großen Kaffeehäuser der Donaumonarchie den süßen Verlockungen der Zuckerbäcker entsagten,17 so wenig werden die heutigen Konditoreien (der Budapest-Besucher hält sie nur für Kaffeehäuser) noch ernsthaft als Orte der kritischen Auseinandersetzung, der politischen Diskussion und künstlerischen Produktivität genutzt. Mit dem Ersten Weltkrieg und dem Zerfall des historischen Ungarns 1921 verschwanden auch viele der ungarischen Kaffeehäuser. Die letzten von ihnen wurden im Zweiten Weltkrieg zerstört oder aber „stalinistisch eingeschläfert“18 .
Und dennoch: Die doppelte Perspektive des „Zuschauers“ scheint verinnerlicht und wird insbesondere von einer jüngeren Generation von Künstlern in Ungarn heute wieder fruchtbar gemacht. Gerade in der 1989 eingeleiteten Phase des Umbruchs, in der sich die ungarische Gesellschaft erneut auf die Suche nach der eigenen Identität macht und in der auch der Künstler seine Rolle innerhalb dieser Gesellschaft grundsätzlich hinterfragen muss, ermöglicht der „Dritte Blick“ einen erhöhten Grad an Selbstreflexivität: gegenüber dem persönlichen, gesellschaftlichen und politischen Alltag einerseits, gegenüber der eigenen künstlerischen Tätigkeit andererseits. Die Positionen der Ausstellung vermitteln ein gebrochenes Selbstbild der Künstler und entsprechend vertiefte Einblicke in die Gesellschaft.
Aus dem Schoß des ungeliebten Kommunismus gestoßen, muss sich Ungarn also in jener Pendelbewegung zwischen Ost und West, die seine an Wendungen reiche Geschichte ausmacht, abermals orientieren. Das alte Fährenland, als das der Schriftsteller Endre Ady Ungarn einmal bezeichnete,19 war zuletzt in einen östlichen Staatenverbund geschlingert. Nun sollte dieses Grenzland, welches das Potenzial zu einem Transfer der Kulturen zwischen West und Ost in sich trägt, das als „Fähre“ aber immer auch ein labiles Gebilde in wechselnden Abhängigkeiten war, endlich angelegt haben, im Westen! Nur wenige sahen mit der rasant vollzogenen Hinwendung zum Westen die Vision von Ungarn als einer stabilen mitteleuropäischen Brücke verraten, sahen die Bande gen Osten unnötig harsch gekappt.20 Das Gros der Bevölkerung aber blickte in den Jahren nach der Wende 1989 sehr optimistisch in eine europäische Zukunft. Mit den Worten von István Hegedűs, Soziologe und Präsident der Ungarischen Europagesellschaft: „Das Land war richtig euphorisch. Die Parole lautete: Zurück nach Europa.“21
Vom Verlieren und Finden
Der Richtungswechsel vollzog sich freilich nicht ohne innere Brüche. Zu einer konservativen Skepsis angesichts des Verlustes von Sicherheiten, die das kommunistische System dauerhaft zu gewährleisten schien, gesellte sich wohl die schmerzliche Erinnerung an jenen noch viel größeren, damals erlittenen Verlust: Das Trauma der Vertreibung aus dem Paradies, zu der die Zerschlagung des Königreichs Ungarn durch die Verträge von Versailles und Trianon 1921 stilisiert wurde, lebte wieder auf. Die Erinnerungen an die k.u.k.-Zeit blieben das ganze 20. Jahrhundert hindurch lebendig und führten zu einer weit verbreiteten Verklärung des 19. Jahrhunderts als des „goldenen“ Zeitalters Ungarns.
Auf den Umstand, dass unliebsame Erinnerungen hingegen immer noch weitgehend verdrängt werden, verweisen heute KünstlerInnen wie Ilona Lovas (Abb. 3). In einer einenteils heroisch verklärten, anderenteils ausgeblendeten Landesgeschichte, wie sie das kommunistische Regime zeichnete, war für persönliche Trauer und eine allfällige Vergangenheitsbewältigung kein Platz. In ihrer Performance „Erbarme Dich meiner“ von 2005 (vgl. S. __ in diesem Buch) setzt sich Lovas mit einem individuellen Drama auseinander, das sie für einen repräsentativen Teil der kollektiven Geschichte Ungarns hält. In körperlicher Arbeit als Metapher mentaler Aufarbeitung geht sie mit der Vergangenheit ihrer Familie um, mit dem persönlichen Schicksal ihres Großvaters, eines erfolgreichen k.u.k. Hutmachers, der völlig traumatisiert aus dem Ersten Weltkrieg zurückkehrte. Wie die historische Landschaft, in die er seine Hüte geliefert hatte, mit dem Krieg zerfallen war, so sah er bei seiner Heimkehr seine Existenz in Trümmern.
Mit der Wende 1989 verbanden einige ewig Gestrige die Hoffnung auf eine – wie auch immer geartete – Neuauflage der Donaumonarchie. Doch realistisch besehen war dieses „Paradies“ nicht wiederholbar, die Chance einer Wiedergewinnung – im Sinne der in der Tradition von John Miltons Versepen aufgemachten Gleichung vom verlorenen und wiedergefundenen Paradies („Paradise Lost“, „Paradise Regained“)22 – bot sich nicht. In Frage stand stattdessen die Realisierbarkeit einer Utopie, welche als Gegenpol zur verworfenen kommunistischen Utopie über vier Jahrzehnte „das Land am Leben erhielt“: die Vision einer Demokratie und eines Liberalismus westlicher Prägung. Der Geldsegen aus dem Westen kam in den 1990er Jahren schnell und heftig auf das Land nieder. Das wahre Gesicht des Neoliberalismus erkannten die Ungarn aber wohl erst, als die Investoren nach wenigen Jahren wieder abwanderten, Produktionsstandorte und Arbeitsplätze abzogen: Die Löhne waren zu schnell angestiegen,23 andere Länder im Vergleich nun profitabler. „Die über Ungarn eingebrochene Freiheit war“, so László F. Földényi, „die Freiheit eines von allen Schranken befreiten Kapitals. Nach Sozialdemokratie hatten wir uns gesehnt und fanden uns stattdessen im Wilden Westen wieder.“24
In einem Umfeld existentieller Unsicherheit bot Zsolt Keserue 2003 den Stimmen der Bewohner der Industriestadt Dunaújváros ein Forum (vgl. S. __ in diesem Buch). Hauptarbeitgeber dieser Stadt, in die der Künstler zog und die er zum bevorzugten Gegenstand seiner Arbeiten machte, ist ein Stahlwerk, das gerade zu schließen drohte. Aus dem notorischen, meist aber unter vorgehaltener Hand praktizierten Lamentieren, das in Ungarn üblich, in Dunaújváros besonders ausgeprägt zu sein scheint, macht Keserue ein öffentliches: Seine „Klagemauer“ (Abb. 4) ist ein Stück künstlerisch initiierter Basisdemokratie, ein Ansatz zu einer konstruktiven Klage-Kultur, die im Kommunismus systematisch unterdrückt beziehungsweise systemkonform gelenkt wurde. György Konrád nannte diese resignative Gleichgültigkeit den „Konfektionsanzug der ostmitteleuropäischen Standardpersönlichkeit“, den auch er getragen habe: „Das System klebt mir an der Haut. […] Mit den Jahren bin ich gleichgültig geworden: So wie es ist, ist es gut. Schlechtes gibt es nicht. Nicht einmal der Tod ist schlecht, ist er doch sicher. Gern würde ich dem Badewasser entsteigen; es ist weder sauber noch warm.“25
Die Sonne des Westens, die den Ostmitteleuropäer beim Austritt aus dem Bade empfangen sollte, hatte 2004, im Jahr von Ungarns EU-Beitritt, deutlich an Strahlkraft eingebüßt. Ein Frösteln machte sich breit. Die Debatten von 2004 offenbarten aufkommende (Selbst)Zweifel an der EU-Konformität Ungarns, welche wiederum in die Frage nach der eigenen Identität mündeten.26 Ungarn betonte sein Anders-Sein und drohte in ein schizophrenes Muster der Selbstwahrnehmung zurückzufallen, das László Földényi im Rückblick als unglücklichen Versuch des Selbstschutzes charakterisierte: „Ungarn wurde im Lauf der Geschichte vom Osten wie vom Westen so oft besetzt, dass ihm zuletzt nichts weiter blieb als ein starres Festhalten an der eigenen nationalen Identität. Wir sperrten uns gegen Europa, aber wir beklagten gleichzeitig, dass Europa uns nicht zur Kenntnis nahm.“27 Abermals war es den Ungarn schwer geworden, jenes „Pathos der Verletzungen, des Grolls, des Gefühls, betrogen und zurückgesetzt worden zu sein, das Selbstmitleid“ hinter sich zu lassen und mit einer „gehörigen Portion an Optimismus“, der es laut György Konrád im Moment des EU-Beitritts bedurfte, zu sagen: „Endlich haben wir unseren Platz eingenommen, nach so vielem Hin- und Hergerutsche können wir uns beruhigen, wir sind daheim angekommen, zu Hause in der europäischen Großfamilie.“28
Die Euphorie war verblasst, die Utopie wurde noch vor der eigentlichen Aufnahme in die EU entzaubert durch eine dem politischen Prozess vorauseilende, erschreckend kaltblütig agierende neoliberale Wirtschaft. In diesem Klima überrascht es wenig, dass die Feierlaune, konkret das Interesse an den in Dublin abgehaltenen Feierlichkeiten anlässlich der EU-Osterweiterung am 1. Mai 2004, verhalten war. Diese Beobachtung und seine Verblüffung darüber, dass das ungarische Staatsfernsehen diese hochbedeutende Geschichtsstunde erst gar nicht live im Fernsehen übertrug und die Deutungsmacht über die in Echtzeit ausgestrahlten Bilder dem medialen global player CNN überließ, bildeten den Ausgangspunkt für Szacsva y Páls Videoarbeit „Another Finger Exercise“ (Abb. 5). Sie handelt von der subjektiven Resonanz jenes weltbewegenden Ereignisses im Zuschauer (vgl. S. __ in diesem Buch).
Militärischer Befehlston und Marschmusik treiben die unruhig auf der Lehne des Fernsehstuhls tippelnden Finger – eine Übung in Konformität, welche die Zuschauerin in einen persönlichen Konflikt stürzt. Im einen Moment bemüht, im Gleichtakt mit dem zackig voranschreitenden Europa zu bleiben, hält die Hand im nächsten Moment zögernd inne, als sei ihr gerade die Eigendynamik des europäischen Prozesses bewusst geworden: die Macht, mit der sie von diesem Zeremoniell, mit der sie – und Ungarn mit ihr – von der hier vollzogenen europäischen Einigung vereinnahmt wird. Was heißt es, in das Loblied eines geeinten Europas einzustimmen und mit György Konrád zu sagen: „Wir werden normal sein“29 ? Europa ist immer noch eine Norm, eine Marke, an der sich die Beitrittsländer dauerhaft zu messen haben werden. Vielsagend scheint da in Szacsva y Páls Video der Blick, den Chirac in einem Moment der Unsicherheit über das auferlegte Protokoll seinem Kollegen Berlusconi zuwirft: Auch die „alten Hasen“ scheinen noch nicht vollends in diesem Europa zu Hause zu sein.
Der Schein der Systeme
Immer wieder dieselben Klagen hatte sich Zsolt Keserue anzuhören, bis er sich dazu entschloss, diese zu sammeln. Seine vielstimmige „Klagemauer“ adressiert eine Fülle von Themen, das grundsätzliche Problem dahinter benennt aber einer der Befragten: Wenn seine Landsleute nicht immer nur vor sich hin jammern würden, „wenn die Menschen sich normal beklagen könnten, dann würden viele Probleme gelöst“. „Welche Probleme?“, hätte der kommunistische Funktionär gefragt. Solange die Kommunisten an der Macht waren und ihr System installiert, tauchten Probleme nur mehr als die der anderen (des Westens) auf, eigene Probleme ausschließlich als gelöste.
Ebenso suggestiv wie augenzwinkernd spielt Gábor Gerhes’ absurde Konstellation von „gelösten und ungelösten Problemen“ (Abb. 6; vgl. S. __ in diesem Buch) auf den in allen Bereichen des Lebens (und Sterbens) durchgreifenden Willen des Staatssozialismus an, die Welt zu ordnen. Wurde die Zeit nicht zurückgedreht, so hielt man sie zumindest an, um die Errungenschaften des Sozialismus (Tablett und Urne als Symbole des sozialen Rundum-Service) dauerhaft genießen zu können. Zumal in der abgemilderten Form des „Kühlschranksozialismus“ der 1970er und 1980er Jahre (auch „Gulasch-Kommunismus“ genannt) brauchte man sich doch wirklich nicht zu beklagen, oder? Im vorgeblendeten
schönen Schein einer mit Furnieren beschlagenen Kunst-Welt konnte man sich schon einrichten. Und wenn es auch bei Gerhes nur zu drei olympischen Ringen reicht: Der Sport bot sich immer als ein probates Mittel an, auf internationaler Bühne von der Realität zu Hause abzulenken. Die Bewältigung lästiger, nicht auf Dauer hinter den Theatervorhang abschiebbarer Probleme derart anzugehen, dass man sich hinter einem großen Balken verschanzt, scheint da nur konsequent.
Die mitunter absurden Seiten des Lebens im kommunistischen System, in dem jeder und alles scheinbar seinen festen Platz hatte, weswegen man die eigene Tätigkeit gar nicht zu hinterfragen brauchte, entlarvt auch Attila Szűcs’ Gemälde „Sprinkle on the Water“ (2003, Abb. 8). Einem Schildbürgerstreich gleich kommt der breite Wasserstrahl, mit dem dort ein Mann den See gießt (hatte es nicht mehr für die Installation einer Fontäne gereicht?). Das System, das autark sein will, erscheint als ein in Autismus verfangenes. Zsolt Keserue spitzt die beißend-ironische Kritik auf die ohne Sinnperspektive agierenden „Helden der Arbeit“ mit der Konstruktion eines sich selbst reinigenden Staubsaugers noch weiter zu: Auf tragikomische Weise ist dieser „Self-Destructive Heroe“ (2000, Abb. 9) derart auf sich selbst bezogen, dass seine von außen gesteuerte, pflichtbewusst eingesetzte Arbeitskraft schließlich zu seiner Selbstauslöschung führen wird (vgl. S. __ in diesem Buch) – vielleicht auch ein Hinweis auf die nicht zuletzt in der Kunst fatalen Folgen von Selbstkontrolle und Selbstzensur im Zeichen der Systemtreue.
Dass Keserue gerade den Bereich der häuslichen Arbeit zur Bühne dieses selbstzerstörerischen Aktes macht, deutet auf eine gründliche Vereinnahmung aller Lebensfelder. Galt doch in Zeiten des Kommunismus das eigene Zuhause, die Familie, als Refugium, als Schonraum, in den der Arm des Systems allenfalls über die propagandistischen Medien hineinreichte. Lange und gerne gab man sich der Illusion hin, dass zumindest hier alles beim Alten geblieben sei. Wie sehr dagegen nun das neu angenommene System der Leistungsgesellschaft mit seiner Beschleunigung der Lebensvollzüge in das alte Gefüge der Familie eingreift, deutet Marcell Esterházys Videoarbeit „v.n.p.v. 2.0“ (2004) an, in der der gemächliche Lebensrhythmus seines Großvaters in starkem Kontrast zur hektischen Betriebsamkeit der jüngeren Generationen steht (vgl. S. __ in diesem Buch). Éva Magyarósis multimediale Filmgedichte (vgl. S. __ in diesem Buch) lassen den Druck erahnen, dem infolge eines allgegenwärtigen Wettbewerbs- und Konkurrenzdenkens nun auch zwischenmenschliche Beziehungen ausgesetzt sind.
Gábor Gerhes’ Bild des Menschen im Zustand der mentalen Paralyse steht in Antal Lakners Serie „INERS – passive working devices“ der Befund einer physischen Erlahmung der Mitglieder moderner Dienstleistungsgesellschaften gegenüber (vgl. S. __ in diesem Buch). Aus den urspünglichen Arbeits- und Produktionsprozessen weitgehend durch den Einsatz von Maschinen verdrängt, verausgabt sich heute kaum ein „Arbeiter“ noch körperlich. Im Großstadtleben bewegt er sich nicht mehr selbst fort, sondern wird größtenteils von Maschinen transportiert. „INERS“ bietet als Antwort darauf eine Reihe von Geräten an, die den Benutzer trainieren und erneut mobilisieren. Fitnessgeräte simulieren etwa das Schieben einer Schubkarre oder die Kraftanstrengung bei Malerarbeiten – sie erlauben ein Festhalten am tradierten Arbeitsethos und beugen den Folgen eines Identitätsverlustes in der Arbeiterklasse vor. In Adaption diverser sportlicher Betätigungen auf die Orte modernen Personentransports regt Lakner neuerdings zum Stretching in Aufzügen (Abb.7), zu einer Art Paragliding auf Flughafen-Laufbändern sowie zum Surfen im Inneren von U-Bahn-Waggons an. Die besonders langen Rolltreppenfahrten zu den tief gelegenen Bahnsteigen der Budapester U-Bahn lassen sich dank eines Sportgerätes, das mit einem Handgriff auf eine Stufe der Rolltreppe aufgesetzt wird, für Turnübungen nutzen („INERS – Escalator Riding“, 2006). Mit einem Augenzwinkern spielt auch Lakner auf die heroischen Leistungen herausragender Sportler der kommunistischen Ära an: Vielleicht gelingt es den Ungarn ja mit seiner Hilfe, die Virtuosität eines Zoltán Magyar wiederzuerlangen, der mit seinen Künsten am Pferd in den 1970er Jahren das Land zum mehrfachen Goldmedaillengewinner bei internationalen Sportwettkämpfen machte.
Die von „INERS“ initiierten Handlungen sind Ersatzhandlungen, Kompensation für den Schwund authentischer, mit Hingabe verfolgter Tätigkeiten. Im besten Falle versetzen Lakners „passive working devices“ den Benutzer für einige Zeit in einen Zustand der Auflösung in demjenigen, was er gerade macht: eine erfüllende menschliche Erfahrung, die Mihály Csíkszentmihályi in seinem 1990 erschienenen Bestseller als ein „Im-Flow-sein” charakterisierte.30 Der Flow stelle sich in der künstlerischen Tätigkeit, im sportlichen Wettkampf, in der spirituellen Praxis oder bei einer fesselnden Arbeitsaufgabe ein und beschreibe den starken menschlichen Antrieb, über sich selbst hinauszuwachsen. Diese „optimale Erfahrung“, einen im Ausgleich von Routine und persönlicher Herausforderung gefundenen Glückszustand, preist Lakner mit den Mitteln eines avancierten Produktmarketings an. Als kongenialer Entwickler und Unternehmer, genau besehen als Wolf im Schafspelz, stößt uns der Künstler letztlich aber auf die tiefer gehende Erkenntnis, dass sich mit dem „Geheimnis des Glücks“ ebenso gutes Geld machen lässt wie mit Fitnesswahn und Wellness-Paradiesen.
Wie sehr auch banale Produkte in westlichen Konsumgesellschaften durch die verführerische Ästhetik des Marketings aufgewertet werden, reflektiert György Orbán mit der von ihm entwickelten Produktserie “Aura” (Abb. 10, vgl. S. __ in diesem Buch). Auf den selbst entworfenen Verpackungen, in Dauerwerbesendungen, in eigens gestalteten Läden, auf Messen und in performance-artigen Verkaufsveranstaltungen entfalten Orbáns Produkte scheinbar eine auratische Strahl- und Anziehungskraft, welche die Glücksangebote und säkularen Heilsversprechen entlarven, mit denen Werbung heute arbeitet. Unbezweifelt werden die Überwältigungsstrategien des Marketings umso aggressiver an Orten und in Zeiten eingesetzt, in denen – wie in Ungarn nach 1989 – die Menschen als Konsumenten noch im Sinne des Marktes „formbar“ erscheinen.
Die Mittel einer perfekten Inszenierung, die profane Konsumgüter in einen fast überweltlichen Schein taucht, machen sich in Zeiten der „Mediakratie“ auch Politiker wie selbstverständlich zu Nutze. Politikerauftritte sind im Zeichen der vermehrten Einflussnahme durch die Medien in immer höherem Grade stilisiert. Nirgendwo wird dies deutlicher als in den bis ins Kleinste durchinszenierten TV-Rededuellen zwischen Präsidentschafts- beziehungsweise Kanzlerkandidaten, wie sie – nach dem Vorbild der USA – in westlichen Demokratien und seit kurzem entsprechend auch in Ungarn ausgetragen werden. Mit scharfer Ironie entblößt János Sugár (Abb. 11, vgl. S. __ in diesem Buch) die bis zur Farce gesteigerte Künstlichkeit dieser Schaukämpfe (die sich oft genug in der Wiederholung bekannter Phrasen erschöpfen), indem er den Politikern eine Reihe von klischeehaften Witzen in den Mund legt. Der Ton ist ausgeblendet und wir lesen diese Witze, die aber nicht von Blondinen oder Polizisten, Roma oder Ostfriesen, sondern von Künstlern und Kuratoren, Galeristen und Sammlern handeln. In dem Raum, der sich zwischen den Bildern und den Untertiteln von Sugárs Videoarbeit öffnet, macht sich die Ahnung breit, dass diese Selbstdarsteller – unsere höchsten politischen Vertreter – auf nichts anderes als auf Stereotypen zurückgreifen könnten, wenn man sie nach der Rolle der Künstler in der Gesellschaft fragen würde. Zum Glück, möchte man fast sagen, ist Kunst nie ein Gegenstand in derlei Duellen. Wo aber hat sie ihren Platz?
Der Künstler: ein Exot?
Anders gefragt: Welche Rolle spielt die Kunst in der ungarischen Gesellschaft, nun, da sie nicht mehr dem einen Ziel, der politischen Propaganda, dient? Leistet sich die Gesellschaft ihre Künstler wie Exoten in einem gut einsichtigen und zugleich wohl abgeschirmten Aquarium? Mit seiner Arbeit „Raum und Fisch“ (2004, Abb. 12, vgl. S. __ in diesem Buch) legt Zsolt Vásárhelyi einen solchen Schluss nahe.
Die Videoinstallation, die in Projektion auf den Grundriss eines Zimmers einen auf und ab gehenden Mann zeigt, handelt vom Selbst- und Fremdbild des Künstlers in der Gesellschaft. Als Konzept-, Video- und Installationskünstler arbeitet Vásárhelyi vorwiegend innerhalb der eigenen vier Wände – ein Bereich, der sich der Kontrolle durch die Gesellschaft weitestgehend entzieht. Und wenn er dort in langen Arbeitsstunden neue Werke entwirft und plant, sieht das – so Vásárhelyis Beobachtung – für den außen stehenden Kunstlaien genauso aus, als würde er gar nichts tun. Die Bewegungen des Fisches (in seiner markaten Farbigkeit eine Metapher der kreativen Gedanken des Künstlers?), der regelmäßig und ungehindert in die Welt außerhalb des Zimmers ausschwärmt, kann und will der Ignorant nicht wahrhaben. Für ihn zählen allenfalls die Ergebnisse, die in den Museen und Schaufenstern der Galerien präsentiert werden.
Eine auf den ersten Blick eingängig erscheinende, dann aber sehr sperrige zeitgenössische Kunst, wie Vásárhelyi sie praktiziert, stößt indes auch dort nicht auf die Akzeptanz eines breiteren Publikums. Und dennoch oder gerade deshalb ist der Künstler weiterhin auf die Brosamen des Staates angewiesen. Warum sollte man die unberechenbar gewordene Kunst aber weiter (über Sozialhilfe, Stipendien, Ankäufe) finanzieren? In ihren Versuchen, die in den Jahren nach 1989 „übermächtig gewordene künstlerische Intelligenz“ in ihre einstigen Grenzen zurückzuverweisen, war sich die ungarische Politik nicht zu schade, diese Bedenken des Steuerzahlers zu instrumentalisieren. Den Künstler, den man am liebsten in das Raubfischbecken des freien Marktes entlassen wollte, stellte man großzügig vor die Wahl: „Entweder Staatskultur oder Markt: Wenn du keine Zensur haben möchtest, dann solltest du auch keine Subvention haben wollen.“31 Vásárhelyis die Installation ergänzende Tapete gibt das fortbestehende Abhängigkeitsverhältnis aber unmissverständlich zu erkennen: Im unendlichen Rapport des Tapetenmusters steuert der rot und gold schimmernde Koi immer wieder die Hand an, die ihm ein Stück Brot reicht. Ein Akt der Dressur?
Was Vásárhelyi in der unschlagbaren Prägnanz dieser Metapher auf den Punkt bringt, haben Schriftsteller wie György Konrád und Künstlerkollegen wie Miklós Erhardt in kritischen Texten ausführlich verhandelt. Bald nach der Befreiung der Künste aus den Fesseln der staatlichen Zensur wurde ein Traum der Künstlerschaft zerschlagen: Auch und gerade in Zeiten des freien (Kunst)Marktes sei der Fluss von Geldern an ideologische Bedingungen geknüpft, die der Künstler – etwa bei der Bewerbung um ein Stipendium – zu erfüllen habe.32 Ein Stipendium erlaube dem Künstler einerseits, die Illusion aufrecht zu erhalten, unabhängig vom Kunstmarkt agieren zu können; andererseits werde zugleich über bestimmte Institutionen, die Stipendien vergeben, „politisch korrektes“ Bewusstsein mit dem Ergebnis marktgängiger Kunst gefördert. Ein Entzug der Gelder komme da einem Akt der Zensur gleich.
In den 1970er Jahren, auf die Balázs Beöthys große Bildtapete (Abb. 13, vgl. S. __ in diesem Buch) zurückverweist, blieb der Kunst nur die (innere) Distanzierung vom System, so sie in diesem nicht aufgehen wollte. Der Großstadtindianer, eine kindliche Phantasie der Flucht aus der Enge des Lebens in der sozialen Blockbausiedlung, in der Beöthy aufwuchs, wird 30 Jahre später zum Alter Ego des Künstlers: Er erscheint als Verkörperung des heroischen Postulats einer Kunst, die in die Isolation getrieben wurde und den mehr oder weniger freiwillig gewonnenen Abstand als Ausweis der eigenen Autonomie definierte.
Die Freiräume, die das neue Stipendiensystem den Künstlern nun verschaffe, würden laut Miklós Erhardt häufig als Einladung missverstanden, sich weiterhin von der Gesellschaft zu distanzieren. Deshalb habe er sich gründlich von der Illusion der Autonomie verabschiedet. Statt sich auf die Warte eines passiven Zuschauers zurückzuziehen, fordert Erhardt den Künstlern – sich selbst – eine aktive Teilhabe an der Gesellschaft ab, einen Beitrag zur Lösung ihrer Probleme. Anders als Antal Lakner oder György Orbán, die in der Rolle des Künstler-Unternehmers allein ein Kunstpublikum adressieren, übernimmt Erhardt (ähnlich wie Zsolt Keserue) im Zuge des Werkprozesses die Funktion eines Sozialarbeiters.
Der Weg zu Miklós Erhardts Videoarbeit „Havanna“ (2006, Abb. 14, vgl. S. __ in diesem Buch) war sein Projekt „Advice Seeking Office“ (2006): ein Stück Entwicklungshilfe in der gleichnamigen Siedlung, einst ein Vorzeigeprojekt sozialen Wohnungsbaus in Ungarn, die in den 1990er Jahren sozial abstürzte. Wie der Versuch des späten 19. Jahrhunderts, in den Hinterhöfen großer Mehrfamilienhäuser durch ein offenes System von Balkongängen eine dorfähnliche Öffentlichkeit33 herzustellen (vgl. hierzu die Arbeiten von Éva Köves, S. __ in diesem Buch), nur bedingt einen Gemeinschaft stiftenden Effekt hatte, so war hier die modernistische Architektur an die Grenzen ihrer Möglichkeiten gestoßen, ein (entgrenztes) soziales Gefüge aufrecht zu erhalten. Um nicht angesichts dieses Scheiterns städtebaulicher Utopien, von Verwahrlosung und Gewalt, zu resignieren, richtet Erhardt in einem der vielen leer stehenden Läden ein Beratungsbüro ein. Er motiviert die Bewohner von Havanna zur Reflektion ihrer Lage. Als Initiator dieser Form von Hilfe zur Selbsthilfe nimmt der Künstler sich selbst zurück und agiert incognito.
Trouvaillen
Die Idee eines Mikrowellen-Salons, die einem der befragten Bewohner von Havanna als neues Nutzungskonzept des renovierten Ladenlokals vorschwebt, hat als soziale Utopie des neuen „kleinen Mannes“ zwar ihren Charme: Alle könnten ihre im Billigmarkt gekauften Fertiggerichte hierher bringen und sich ein warmes Essen gönnen. Doch auf der Schattenseite des Hochglanz-Kapitalismus scheint das Gefühl des Verlusts häufig schwerer zu wiegen als die Aussicht auf neue Chancen. In ihren Recherchen und Reflektionen des Alltags bewegen sich die Künstler der Ausstellung immer wieder in jenen vagen Bereich zwischen dem Immer-Noch, dem Nicht-Mehr und dem Vielleicht-Einmal, in dem die Ungarn sich momentan zu orientieren versuchen. In Momenten des Innehaltens und Sinnierens findet Mónika Sziládi in den Fotografien ihrer Serie „Still“ (2006, vgl. S. __ in diesem Buch) die Menschen aus ihrer unmittelbaren Umgebung wieder: Die Melancholie, die diese scheinbar mitten in der Routine des Alltags befällt, führt zur Reflexion über das eigene Leben, zur Einkehr in sich selbst.
Eine Reihe ganz unterschiedlicher künstlerischer Positionen sucht heute die Auseinandersetzung mit dem alltäglichen Leben mit dem Ziel, alltägliche Dinge, Situationen und Begegnungen zum Sprechen zu bringen – ob sich Miklós Erhardt in den Alltag der Wende-Verlierer von Havanna versetzt oder Erika Baglyas mit archaisch anmutenden Bildern einer Brotteig knetenden Frau danach fragt, ob unter gewandelten gesellschaftlichen Bedingungen „Nützliches Wissen“ (2006, vgl. S. __ in diesem Buch) nicht etwas ganz anderes bedeutet als in den vorhergehenden Generationen.
Wenn Ágnes Eperjesi im Alltag übersehene Bilder von den Verpackungen profaner Gebrauchsgegenstände ablöst, sie sammelt und in ihren Arbeiten recycelt, bewahrt sie den vernachlässigten Teil einer Ikonographie des Alltags, die in den letzten Jahren mit erhöhtem Tempo überschrieben wird – ein mit künstlerischen Mitteln geführter Kampf gegen die kollektive Amnesie. Ihre Erzählung der eigenen Familiengeschichte (Abb. 15; vgl. S. __ in diesem Buch), das Konstrukt eines individuellen Lebens in kollektiven Bildern, liefert uns eine Reihe von „Metaphern, welche die mentale Verfasstheit der ungarischen Gesellschaft in Folge der politischen Restrukturierung während des letzten Jahrzehnts umschreibt: geprägt von der Sehnsucht, die Vergangenheit zu rekonstruieren und eine neue Identität aufzubauen, wo das alte Identität stiftende System verblasst“.34
So wie Ágnes Eperjesi im kollektiven Bildfundus der Gebrauchsgrafik das Leben des Einzelnen wiederfindet, zeichnet Mária Chilf komplementär dazu anhand von Fundstücken, ganz persönlichen Gegenständen wie einer Geldbörse oder einem Talisman, die Züge einer kollektiven Mentalität nach. Sagt der Inhalt eines Portemonnaies (Abb. 16) nicht wesentlich mehr über seinen Besitzer aus als dessen bloße Physiognomie? Angesichts ihrer Sammlung solcher indirekter Porträts fügt sich dem Betrachter ein Bild von den ungarischen Landsleuten der Künstlerin: von ihrem öffentlichen Leben (Ausweise, Kredit- und Visitenkarten, Fahrscheine, Rechnungen), vor allem aber auch von ihren Beziehungen zu den wahren „Schätzen“, die als Kind, Frau, Mann oder Haustier in den Sichtfenstern geehrt werden. In einem zweiten Schritt („My Treasure, Your Treasure, His/Her Treasure II.”, Abb. 17) geht Mária Chilf, ausgehend von mehreren zufälligen Funden kleiner Plüschtiere mit Aufhängern, mit anderen Augen durch ihre Stadt. Überall begegnet sie den Anhängern, an Taschen, Rucksäcken, Schlüsselbunden. Jeder, der sie sieht, scheint zu wissen, dass es irgendwo ein Gegenstück gibt. Und was in Deutschland undenkbar wäre: Auch Erwachsene tragen diese putzigen Tierchen, um ihre Verbundenheit zu einem abwesenden Menschen zu signalisieren. Es hat etwas Anrührendes, zu sehen, wie diese niedlichen Liebesbeweise den öffentlichen Raum infizieren, auch wenn in Gruppen auftauchende Maskottchen den Anschein von Trophäen in einem unablässigen Wettbewerb um die Gunst der Mitmenschen erhalten. In vielen Fällen ist es aber einfach nur erstaunlich, mit welchem Selbstverständnis die Träger diese Objekte emotional aufladen und ihr Bedürfnis, sich ihrer Liebsten zu versichern, zur Schau tragen. Wie herb mag da der Verlust sein?
Auch wenn wir letztlich nicht werden ermessen können, was ein solches Fundstück für den ehemaligen Besitzer bedeutet haben mag: Mária Chilf hat einige der kleinen Tierchen für uns gefunden und konfrontiert in ihrer Installation den Besucher der Ausstellung mit einem aus westlicher Sicht wohl eher unbekannten, weil untypischen Aspekt der ungarischen Gegenwart. Wer in dieser Ausstellung Marika Rökk und Paprikawurst (oder Kaffeehaus-Romantik) erwartet, wird enttäuscht werden. Sein altvertrautes Bild von Ungarn – von politischer Schwarzweißmalerei und touristischen Klischees beladen – wird der Besucher nicht wiederfinden. Im besten Fall kommt ihm dieses Bild in der Auseinandersetzung mit den ausgestellten Werken Schritt für Schritt und in dem Maße abhanden, in dem er ganz neue Eindrücke gewinnt: Lost and Found. Das sollte es sein, was im übertragenen Sinn ein Ausstellungshaus zeitgenössischer Kunst von einem Fundbüro unterscheidet – es geht nicht um die Rückgabe vermeintlicher intellektueller Besitztümer.
1 László Márton: Was ist ein Ungar? In: DIE ZEIT, 15.04.2004.
2 „Jeder konnte darin sehen, was er wollte“, meint der Soziologe Péter Kende: „Linke hielten den Aufstand für eine wahrhaft sozialistische Revolution, […] Liberale glaubten an den Durchbruch zu einer bürgerlichen Demokratie westlichen Musters, Nationalisten an eine Erhebung des ungarischen Volkes gegen die russische Fremdherrschaft […]. Einig war die Bewegung nur in der Forderung nach Abzug der sowjetischen Besatzer und im Hass gegen ihre ungarischen Statthalter“; zit. nach Richard Herzinger: Das kurze Glück der Freiheit. In: Die Welt, 18.10.2006.
3 Wir wollten betrogen werden. Interview mit György Dalos. In: Der Bund, 19.10.2006.
4 László Földényi sprach von einem „Bürgerkrieg der Erinnerungen“ und warf seinen ungarischen Landsleuten vor, lieber auf ihre Wunden als ins Auge der Vergangenheit zu schauen und dem Erinnern das Gedenken vorzuziehen; vgl. NZZ, 07.01.2006.
5 Márton 2004 (s. Anm. 1).
6 György Konrád während eines Podiumsgesprächs zu „Ungarn 1956“ am 21.10.2006 im Landesmedienzentrum Baden-Württemberg, Karlsruhe.
7 Wilhelm Droste: Budapest. Vorwort zu: Ders., Susanne Scherrer und Kristin Schwamm (Hg.): Budapest: Ein literarisches Porträt. Frankfurt a. M., 1998, S. 13–61, hier S. 58; die Bedeutung der „ungarischen Literatur“ sei „viel existentieller als Literatur bei größeren Völkern, die sich latent nicht vor einer völligen Auslöschung fürchten müssen. Literatur ist in Ungarn […] immer auch ein Stück nationaler Selbstbehauptung“.
8 Márton 2004 (s. Anm. 1).
9 György Konrád: Die Seele des Systems. In: Ders.: Identität und Hysterie. Frankfurt a. M. [1993] 1995, S. 17–35, hier S. 30.
10 György Konrád: Der dritte Blick oder Betrachtungen eines Zivilisten. In: Ders.: Der dritte Blick. Betrachtungen eines Antipolitischen. Frankfurt a. M. 2001.
11 Ebd.
12 Vgl. Konrád 1995 (s. Anm. 9), S. 23.
13 Wilhelm Droste: Das Kaffeehaus der Donaumonarchie als sichtbare, weil historisch gewachsene Utopie. In: Drei Raben – Zeitschrift für ungarische Kultur, H. 1 (Kaffeehaus als Kultur), Dez. 2000; vgl. auch Droste 1998 (s. Anm. 5), S. 26 f.
14 Droste 2000 (s. Anm. 13).
15 „Man kann kein wahrer Kaffeehausmensch sein, wenn man nicht fähig ist, sich selbst von außen durchs Fenster zu sehen“, so der frühe István Csurka, der jüngst durch seine Aktivitäten auf der politischen Bühne bei seinen literarischen Kollegen in Misskredit geraten ist; zit. nach Klaus Thiele-Dohrmann: Europäische Kaffeehauskultur. München 1999, S. 134.
16 Das 1887 eröffnete Centrál lag im Zentrum der Stadt und entwickelte sich – umgeben von Kultureinrichtungen, Zeitungsredaktionen und Druckereien – zu einem Zentrum des geistigen Lebens, der Intellektuellen und der Literaten Budapests. 50 Jahre nach seiner Schließung 1949 erwacht es nun zu neuem Leben; vgl. Zsófia Németh (Hg.): Budapest Cinemas and „Grand Café Budapest“. Budapest [2001] 2003, S. 192–194.
17 Laut Wilhelm Droste stehen Kaffeehäuser „zu süßen Torten wie Katholiken zu Fleisch am Karfreitag“; Droste 1998 (s. Anm. 6), S. 26.
18 Droste 2000 (s. Anm. 13).
19 „Fährenland, Fährenland, Fährenland: selbst in seinen fähigsten Träumen pendelt es bloß zwischen zwei Ufern, von Ost nach West, aber lieber zurück […]“; Endre Ady: Művei. Publicisztikai írásai [Werke. Publizistische Schriften], Bd. 2. Budapest 1987, S. 215; übersetzt von Sándor Kurtán; zit. nach Èva Kovács: Wie wird Europa in Ungarn kommuniziert? In: Vrääth Öhner, Andreas Pribersky, Wolfgang Schmale, Heidemarie Uhl (Hg.): Europa-Bilder. Innsbruck 2005, S. 103–114, hier S. 108 f.
20 Zum historischen Für und Wider die Fähren- und die Brückenmetapher in den politischen Debatten des 20. Jahrhunderts: Kovács 2005 (s. Anm. 19).
21 Zit. nach Jens Tönnesmann:Aufbruch in roten Hosen. In: DIE ZEIT, 25.03.2004.
22 Während Milton in „Paradise Lost“ (Erstausgabe London 1667) im Wesentlichen analog zur Bibel die Geschichte der Verbannung Adams und Evas aus dem Paradies schildert, zeichnet er in „Paradise Regained“ (London 1671) Christus als den vollkommenen Menschen, der im Gegensatz zu Adam den Versuchungen des Satans widersteht und diesen Kraft seiner göttlichen Macht besiegt.
23 Die realen Löhne stiegen innerhalb von drei Jahren bis 2002 um 30 Prozent. Die Produktivität nahm gleichzeitig aber nur um 10 Prozent zu. „Das ging alles viel zu schnell“, sagt András Inotai, Direktor des Instituts für Weltwirtschaft an der ungarischen Akademie der Wissenschaften. „Es war klar, dass wir nicht die Werkbank Europas bleiben können.“ Zit. nach Tönnesmann 2004 (s. Anm. 21).
24 László F. Földényi:Die inneren Brücken Europas (Rede anlässlich der Leipziger Buchmesse am 22.02.2003; veröffentlicht unter:www.freitag.de/2003/30/03311601.php).
25 Konrád 1995 (s. Anm. 9), S. 20.
26 Vgl. Kovács 2005 (s. Anm. 18), die untersuchte, wie die führenden ungarischen Printmedien den EU-Beitritt auf den Titelseiten darstellten.
27 László Földényi in: Süddeutsche Zeitung, 08.03.2004.
28 György Konrád: Wir werden normal sein. In: DIE ZEIT, 29.04.2004.
29 Ebd.
30 Mihály Csíkszentmihályi: Flow. Das Geheimnis des Glücks [Flow. The Psychology of Optimal Experience]. [1990] 12. Aufl. Stuttgart 2005. 1934 in Italien als Sohn einer ungarischen Familie geboren, ist Csíkszentmihályi heute emeritierter Professor für Psychologie an der University of Chicago.
31 György Konrád: Vom ungleichen Verhältnis zwischen Kunst und staatlichen Geldern. In: Konrád 1995 (s. Anm. 9), S. 210–222, zit. S. 211.
32 „Now the system, which has become even more deeply ideological than the old one, lures us to function as milk lures its bacteria to produce yogurt.” Zit. nach Miklós Erhardt, Duna Maver: The Structure of Advoidance. http://subsol.c3.hu/subsol_2/contributors/erhardttext.html.
33 Zu diesen „dörflichen Hofburgen“ als Charakteristikum des Budapester Städtebaus: Droste 1998 (s. Anm. 7), S. 49 f.
34 „ […] these objects are best seen as metaphors describing the mental state of the Hungarian society following the political restructuring over the past decade, as a desire to reconstruct the past and to build a new identity construction on the place of the vanished system of old identification.” Edit András: The Twists and Turns of Memory. In: Dies., András Beck, Rebecca Straw (Hg.): Eperjesi Ágnes. Újrahasznosított képek / Recycled Images 1999-2003. Kat. Budapest 2003, S. __–__, zit. S. __ (Übersetzung FE).
Attila Szűcs
Als kleiner Junge besuchte Attila Szűcs mit seiner Familie ein kleines Dorf in Baranya, dem südlichsten Komitat Ungarns, in dem die Schwester seiner Großmutter lebte. Er schlich aus der Küche in einen im Halbdunkel liegenden Salon. Darin stand ein großes Bett mit aufgetürmten Kissen und einem Federbett, darüber eine bestickte Tagesdecke. Der Junge kletterte hinein und versank in die verlockende, kühle Weichheit – bis ihn die Mutter entdeckte und aus dem Bett warf, er entdecken musste, dass er gegen ein Tabu verstoßen hatte: Dieser Salon wurde nur für besondere Anlässe genutzt und diente vor allem dazu, den Wohlstand der Familie zu demonstrieren. Im Rückblick deutet der Künstler diesen Raum als atmosphärisch ambivalent. Zum einen sei der Salon von einer leblosen und sterilen Leere geprägt gewesen, zum anderen habe er aber auch etwas Sakrales ausgestrahlt.
Diese Ambivalenz ist auf die Gemälde Attila Szűcs’ übertragbar. Eine atmosphärische Uneindeutigkeit prägt seine Bilder, Menschen und Objekte stehen im Zwielicht. Dies vermittelt sich in Szűcs gedämpfter Farbpalette, die nebulös und surreal verwischt wirkt, aber auch inhaltlich bleiben die Szenen offen. Der Künstler scheint ein Zwischenreich zu beschreiben, transitorische Momente zwischen Traum und Wachzustand, Fiktion und Realität. Attila Szűcs nutzt seit vielen Jahren eine Technik, die jüngst gerade auch in der deutschen Malerei häufig Verwendung findet: Er malt nach Fotografien, die er sammelt und archiviert, um sie irgendwann malerisch analysierend umzusetzen. Diese Technik fördert den Eindruck der poetischen Langsamkeit seiner Bilder bis hin zur Regungslosigkeit.
In zahlreichen seiner Gemälde stellt Szűcs Möbelstücke dar, und oftmals sind diese die einzigen Protagonisten. Durch die Isolierung aus einem narrativen Kontext monumentalisiert er das Mobiliar. Eine Couch verliert ihre eigentliche Funktion als Sitzgelegenheit für Menschen. Das Gemälde „Mutter mit ihrem Sohn“ zeigt einen kleinen Jungen neben einem roten Sofa, die Hände in den Hosentaschen verborgen. Die Mutter sitzt jedoch nicht auf der übergroßen Couch, sondern auf einem von ihrem Körper verborgenen Möbelstück. Dies erinnert an Szűcs’ Erzählung vom Bett, das nicht zum Gebrauch gedacht war. Mutter und Kind bleiben in diesem Gemälde merkwürdig isoliert. Zwar blickt die Mutter beobachtend auf ihr Kind, dennoch baut sich keine Beziehung zwischen den beiden auf. Ein anderes Gemälde der Ausstellung – „Transfusion“ – zeigt ein Fitnessgerät, das wie eine Vision in den dunstig grauen Raum positioniert wurde. Auch hier wird ein Objekt zum Protagonisten: Das Standfahrrad ist in keine Erzählung eingebunden, das Motiv bleibt isoliert und erfährt zugleich eine Monumentalisierung. Bei dem Gemälde „Die Christbaumspitze“ erkennt der Betrachter lediglich durch den Bildtitel, was er sieht. Szűcs wählt einen so engen Bildausschnitt, dass der Weihnachtsbaum nicht zu sehen ist, und die Schmuckspitze ihre eigentliche Funktion verliert. Als Motiv erhält diese eine skulpturale, nahezu architektonische Dimension.
Im 2001 entstandenen Gemälde „Bote“ taucht aus dem Zwielicht eine Gestalt auf. Als Vorlage diente Szűcs die Porzellanfigur des Kapellmeisters der Meißner Affenkappelle. In der 1753 von Joachim Kändler geschaffenen Musikergruppe erfährt der Affe als Objekt der Satire eine Aufwertung, nachdem er im Mittelalter als sündhaftes Tier galt. Im 18. Jahrhundert entdeckte der Mensch seine Verwandtschaft mit dem Affen. Mit den an menschlicher Mimik und Gestik angelehnten Posen scheinen die Musiker in höfischer Kleidung und Rokoko-Perücken die aristokratische Gesellschaft als „dressiert“ zu entlarven. In der Bildenden Kunst wurde der Affe auch als alter ego des Künstlers aufgegriffen. Der Affe wird zum Sinnbild des Künstlers, der berufsbedingt die Natur nach“äfft“.
HZ
Vorwort
Mit dem Dritten sieht man besser! Zumal in einem Umfeld hitziger Debatten, wie sie diesen Herbst in Budapest anlässlich des Gedenkens an den anti-sowjetischen Volksaufstand vor 50 Jahren geführt wurden: Wenn die politischen Lager – jedes für sich – „Ungarn 1956“ eigenmächtig deuten, die damaligen Geschehnisse für ihre heutige Politik vereinnahmen und sie im Kontext aktueller Konflikte instrumentalisieren; wenn die Fronten so verhärtet sind, dass die politischen Kontrahenten es ausschließen, Seite an Seite zu gedenken; wenn die Zugehörigkeit zu Parteien oder Interessengruppen vielleicht auch den eigenen Blick verstellt. Dann würde ihn sich so mancher Ungar wünschen: den „Dritten Blick“, die persönliche Perspektive des teilnehmenden Beobachters, der sich keiner der rivalisierenden Parteien anschließt, der mitten im Geschehen ist und es zugleich schafft, dieses aus einem gewissen Abstand zu sehen.
„Literatur und Kunst sind der dritte Blick.“ György Konrád, der diesen Satz formulierte und der seinen Beruf schon immer als den des engagierten Zuschauers verstand, ahnte schon in jenen Tagen 1956 seine Verantwortung: „Damals hatte ich das Gefühl, in einem permanenten Kino zu leben, worin die Erscheinungen, jetzt beispielsweise die Russen und die Studenten, hereinkommen und hinausgehen, während ich, der umherwandelnde Kinozuschauer, zuschaue, damit die Dinge gesehen werden […]“ (György Konrád, 2006).
Wie wichtig es auch und gerade heute ist – in einer Zeit des rasanten gesellschaftlichen Wandels in Ungarn –, dass „die Dinge gesehen werden“, darüber scheint sich eine jüngere Generation von Künstlern einig. Auf produktive Weise verbinden sie ihre Innenperspektive, ihre intime Kenntnis der Lebensverhältnisse, mit der Ansicht von außen, aus einer ästhetischen und mentalen Distanz heraus. Aus dieser doppelten Perspektive beleuchten die Positionen der Ausstellung den ungarischen Alltag im Spannungsfeld zwischen Altem und Neuem und gewährt ungewöhnliche Einblicke in die Gesellschaft und Kultur eines europäischen Nachbarn.
Ausstellung und begleitendes Veranstaltungsprogramm finden statt mit Unterstützung und im Rahmen von „Ungarischer Akzent“, des ungarischen Kulturjahres in Deutschland 2006/2007.
Wir danken dem Ministerium für Bildung und Kultur der Republik Ungarn, namentlich Orsolya Erdődy, Dr. Márton Méhes und Péter Siklós, sowie dem Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg, im Besonderen Joachim Uhlmann, für die großzügige Förderung des Ausstellungsprojektes und dieses Kataloges.
Zu Dank verpflichtet sind wir den ungarischen und deutschen Autoren des Kataloges, für die Verlagsbetreuung Andreas Balze in Köln, für die grafische Gestaltung des Kataloges Rainer Lienemann und Martin Feuerstein in München.
Für die hervorragende Kooperation bei der Realisierung dieses Projektes danken wir auch Kinga German, die als Projektkoordinatorin in Budapest die Fäden zusammenhielt und dem Team der Kunsthalle in allen Projektphasen mit Rat und Tat zur Seite stand. In der Kunsthalle ist vor allem Dr. Harriet Zilch für ihr unermüdliches Engagement bei der Koordination des gesamten Projektes zu danken.
Fritz Emslander
Staatliche Kunsthalle Baden-Baden